Sechs Gründe, warum dein Pferd sich losreißt
1) Unzureichende Haltungsbedingungen
Wenn du mir schon eine Weile folgst, dann weißt du, dass es den perfekten Stall nicht gibt. Natürlich hätten wir alle gerne die Weite der Prärie vor unserer Haustür, aber dafür ist in unseren Breitengeraden einfach zu wenig Platz. Für die Pferdehaltung braucht es aber dennoch gewisse Grundvoraussetzungen, damit das Tier psychisch und physisch gesund bleibt. Auch im Winter muss dein Pferd täglich die Möglichkeit haben, sich mehrere Stunden lang unter Artgenossen frei bewegen zu können. Hier muss genug Raum zur Verfügung stehen, damit dein Pferd bei Bedarf auch mal im Galopp etwas Dampf ablassen kann, die Bodenbeschaffenheit muss Bewegung zulassen und dein Pferd braucht einen Anreiz für kontinuierliche Bewegung im Schritt.
Schau dir den Auslauf deines Pferdes einmal ganz nüchtern an.
Handelt es sich um einen ebenen, viereckigen Sandplatz, auf dem sich täglich 2 Pferde gemeinsam die Beine in den Bauch stehen? Sind die einzigen interessanten Punkte das Ausgangstor, durch die das Pferd später wieder in die Box zum Futter gelangt, und die Tränke, die neben dem Tor platziert wurde, weil es einfach praktischer ist und man so ja auch viel weniger Schlauch benötigt?
Oder sind die interessanten Dinge wie Raufutter, Tränke, Ein- und Ausgangstor sinnvoll verteilt und es gibt zusätzlich andere spannende Dinge zu untersuchen? Vielleicht gibt es Büsche, Bäume, kleine Hügel, eine große Matschpfütze zum Suhlen, Knabberäste und viele Kumpels?
Auch wenn für dein Pferd aktuell Variante 1 zutrifft, kannst du dich dafür einsetzen, das zu ändern. Es muss nicht immer ein Stallwechsel sein, oftmals kann man auch vor Ort durch veränderte Kleinigkeiten Verbesserungen erzielen.
Wenn dein Pferd 23 Stunden am Tag in der Box oder auf einem langweiligen, kleinen Matschpaddock stehen muss, kann es passieren, dass es die Gunst der Stunde nutzt, in deiner Anwesenheit endlich mal Dampf abzulassen und damit aufgestaute Energien und Frust loszuwerden.
2) Zu wenig Raufutter
Wie viel Heu steht deinem Pferd täglich zur Verfügung? „Ein großes Heunetz“ ist hier nicht ausreichend, bitte finde heraus, wie viel Kilogramm dein Pferd täglich bekommt. Wie wird das Futter gereicht? Frisst dein Pferd loses Heu vom Boden und inhaliert innerhalb 30Minuten 2 Kilo, oder verlängern Netze oder andere Vorrichtungen die Fresszeit und somit auch das Kauverhalten?
Falls dein Pferd in Gruppenhaltung lebt, wie viel Heu frisst es tatsächlich? Ist es ranghoch und steht den ganzen Tag an der Raufe, oder ist es rangniedrig und kann vielleicht nur fressen, wenn die anderen Pferde gerade trinken gehen? Haben alle Gruppenmitglieder ähnliche Ansprüche in Bezug auf die Fütterung, oder gibt es Pferde, die Diät halten müssen und deshalb werden alle Pferde weniger gefüttert?
Pferde sind Dauerfresser, sie brauchen viel energiearmes Raufutter und viele, viele Kauschläge für ihr Wohlbefinden und ihre Gesundheit. Beim Kauen wird Speichel gebildet, dieser wird benötigt um die Magensäure abzupuffern. Hat dein Pferd zu lange Fresspausen, gelangt nicht genug Speichel in den Verdauungstrakt und dein Pferd läuft Gefahr, Magengeschwüre zu entwickeln. Und ja, das kann auch passieren, wenn das Pferd nach Meinung deines Trainers „eh zu fett“ ist.
Raufutter enthält die Aminosäure L-Tryptophan, die ist wichtig für die Bildung des Wohlfühlhormons Serotonin.
Hat dein Pferd ständig Hunger, weil es portionsweise oder/und zu wenig gefüttert wird, zeigt sich das auch im Umgang. Dein Pferd ist gestresst, und wenn jetzt irgendwo grünes Gras lockt, kann das Pferd oft nicht widerstehen und das Losreißen ist vorprogrammiert.
3) Unzureichende Kommunikation
Ein Ruckeln am Halfter, weil das Pferd zu schnell läuft, ein versehentliches Zuppeln am Führstrick, weil du gerade deine Jacke zumachst. Ist dir bewusst, welche Signale du deinem Pferd täglich gibst und wie diese Signale bei deinem Pferd ankommen? Pferde erkennen unsere Absichten anhand von Mikrobewegungen. Wir müssen uns nicht groß machen, um das Pferd anzuhalten oder böse gucken, um es rückwärts zu schicken.
Wie oft sagst du das Wort „nein“ zu deinem Pferd? Und was glaubst du, verknüpft es mit diesem Wort? In welcher Tonlage sprichst du mit deinem Pferd und verändert diese sich gegebenenfalls, wenn du einen stressigen Tag hattest?
Pferde sind Fluchttiere, das heißt, ihre von der Natur vorgegebene Überlebensstrategie ist das Weglaufen. Wenn wir dem Pferd widersprüchliche Signale geben, verunsichert das das Pferd und das Weglaufen ist aus Pferdesicht eine sinnvolle (Auf)Lösung der Situation.
4) Dein Pferd fühlt sich unsicher
Hat dein Pferd Angst vor Traktoren? Oder vor Kühen, oder Plastiktüten? Was tust du, um deinem Pferd die Angst zu nehmen? Rutschen dir Sätze wie „Stell dich nicht so an“ und „Da ist nichts“ heraus oder stellst du dich todesmutig vor das Ungeheuer und signalisierst deinem Pferd, dass du die Situation im Griff hast?
Wenn dein Pferd unterwegs Angst bekommt, und dann auch noch spürt, dass du am anderen Ende des Stricks das Gespenst entweder gar nicht gesehen hast oder aber verlangst, dass es die Gefahr regungslos erträgt, kann das für dein Pferd sehr belastend sein. Die Flucht vor dem Trecker und damit gegebenfalls auch vor dir kann aus der Sicht deines Pferd eine erfolgversprechende Alternative sein.
5) Überforderung
Was verlangst du unterwegs von deinem Pferd und wie hast du das Training dafür aufgebaut? Es ist eine große Herausforderung für ein Pferd, sich von der sicheren Herde zu entfernen und vielleicht sogar das bekannte Stallgelände zu verlassen. „Da draußen“ warten viele Gefahren, hast du dein Pferd und eure Kommunikation darauf vorbereitet?
Unterwegs kann es aufgrund äußerer Einflüsse, auf die du keine oder kaum Einwirkung hast, sehr schnell zu vielen Reizen gleichzeitig kommen. Ihr passiert gerade eine recht schmalen Feldweg, es beginnt zu regnen, entgegenkommende Spaziergänger spannen ihre Schirme auf, in diesem Moment taucht der Trecker am Horizont auf und ein reiterloses Pferd kommt im Galopp aus dem Wald geschossen… Wenn die Reize aus der individuellen Sicht deines Pferdes Überhand nehmen, kann der Fluchtinstinkt übernehmen.
6) Mindestens einer dieser Punkte traf in der Vergangenheit zu
…und dein Pferd hat gelernt, dass Losreißen in Anwesenheit eines Menschen eine erfolgversprechende Reaktion ist.
In solchen Fällen sehen wir dann Instinktverhalten gepaart mit Lernverhalten. Es kann passieren, dass die Anforderungen an die Reize, die dein Pferd zur Flucht veranlassen, immer geringer werden. Dann muss es vielleicht gar nicht mehr der furchteinflößende Trecker sein, sondern es reicht das Motorengeräusch eines Autos, das vorbei fährt. Vielleicht erschrickt dein Pferd, weil eine Autotür zugeschlagen wird oder ein Besen umfällt. Dein Pferd läuft also immer häufiger davon.
Wie kann man eine solch verfahrende Situation noch lösen?
Das zeige ich dir in meinem Online Kurs „Pferde sicher führen“. Wir beschäftigen uns ausgiebig mit der Vorbeugung und du bekommst auch Strategien zur Akuthilfe an die Hand.
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